Goal Attainment Scaling
Goal Attainment Scaling
56 psychiatric patients in day-hospitals and 12 outpatients in psychotherapy have been evaluated by goal-attainment-scaling:
That method itself has been questioned and scrutinized.
 
 

Stigmatisierung/Ausgrenzung psychisch Kranker

nach einem Vortrag im Psychoseseminar Goslar, 6.10. 2004

Wolfgang Bolm


 

Anstelle einer Vorrede möchte ich bemerken, dass ich das Folgende nicht in meiner amtlichen Rolle als leitender Arzt des sozialpsychiatrischen Dienstes Goslar sage, sondern als Fachmann, der am Psychoseseminar interessiert ist.

Weiterhin werde ich nicht speziell zur Schizophrenie oder den Psychosen sprechen können, weil es zu wenig gesichertes Wissen über die Unterschiede der einzelnen Diagnosegruppen bei unserem Thema gibt.

Zur Definition: In der Geschichte wird das Wort Stigma bezogen z.B. auf das Kainsmal, Gott macht ein Zeichen auf die Stirn des Mörders, damit wer ihn trifft, ihn nicht umbringt. Stigma hieß auch das Brandmal der Sklaven oder Verbrecher, damit sie sofort erkannt werden konnten.

Allgemein ist Stigma eine Eigenschaft, die den Träger dem Risiko radikaler sozialer Entwertung aussetzt. Die Gesellschaft reagiert also auf seelische Krankheit; der Betroffene ist durch die Krankheit entweder schon diskreditiert- oder wenn sie unsichtbar auftritt, kann er diskreditiert werden. Hinzu kommt als weitere Ebene die Selbststigmatisierung, das was in der Fantasie oder dem Verhalten des Kranken passiert, auch an Erwartungen von Stigma.

Zur Geschichte: Abwertung seelischer Krankheit finden wir bereits in ältesten Zeiten: Die Griechen führten den Irrsinn als eine der Plagen darauf zurück, dass Zeus die Menschen strafte, weil Prometheus für sie das Feuer gestohlen hatte. In der Bibel findet sich im 1. Buch Samuel eine Äußerung des Königs von Gatt, er hätte schon genug Narren und könne keine weiteren brauchen- als man ihm David vorführen wollte, der sich zum eigenen Schutz als Narr ausgegeben hatte. Ähnlich wird auch Goethe zitiert, er hätte der Narren genug und brauche keine weiteren.

Der Psychiater Veltin fasst 2000 in der Zeitschrift "Psychiatrische Praxis" zusammen: "Denn alle Welt weiß im Grunde darum, dass Jeckheit oder Narrheit der menschlichen Natur anderer Teil ist, ebenso, dass Irren menschlich ist. Doch sieht sie dieser Wahrheit nur ungern ins Auge und diskreditiert die psychisch Kranken als die ihr unangenehmen Zeugen dieser Wahrheit".

Bei den alten Juden gab es die Sitte, einen mit den Sünden der Gläubigen beladenen Ziegenbock als Sündenbock in die Wüste zu jagen und ihn dort stellvertretend für die bösen Menschen büßen zu lassen. Dieses uralte Bedürfnis der Menschen, einen Sündenbock zu finden, wird uns später noch begegnen.

In der Psychiatriegeschichte ist interessant, dass Worte wie "Spinnen", "Beschäftigungstherapie" oder "Anstalt" heute mit abwertendem Unterton gebraucht werden, während sie im 19.Jahrhundert zunächst positiv belegt waren: Damals wurde versucht, der Tatenlosigkeit der Bewohner der Irrenanstalten genannten Orte durch Spinnen, später andere Beschäftigungen, therapeutisch abzuhelfen oder die ganze Einrichtung in "Nervenheilanstalt" umzubenennen: Das Stigma war stärker...

Der Philosoph Safranski führte 1997 das Böse im Menschen u.a. auf Verfeindungsverhältnisse zurück; die entspringen solchen elementaren menschlichen Konstanten, wie dem Kampf um Selbsterhaltung, dem sich ehrgeizig vor anderen auszeichnen wollen, dem Willen zur Macht oder der Lust an der Gewalt. Die Bereitschaft, den verletzlichen psychisch Kranken abzuwerten, erscheint so als normale Äußerung dieses menschlichen Grundzuges, dass die grossen Fische die kleinen fressen (wie es in einem Bild von Breughel heißt). Anders ausgedrückt, dass der eine Mensch dem andern ein Wolf oder ein Teufel ist, wie der Philosoph Hobbes sagte. Sie sehen, dass wir hier bei ganz und gar pessimistischen Menschenbildern landen. Es darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass alle großen Religionen ein pessimistisches Menschenbild haben und dass das anderslautende Menschenbild des Zeitalters der Aufklärung und der Wissenschaftsgläubigkeit seine historische Bewährungsprobe noch bestehen muss.

Wir kommen nun zu Vorurteilen: Das sind Abwertungen, die durch Information nicht behoben werden können. Sie entstehen u.a. aus der tief sitzenden Angst vor dem Risiko, selbst psychisch krank zu werden. In manchen Studien reicht das Lebenszeit-Risiko einer psychischen Erkrankung bis an 40% heran. Andere Studien haben erwiesen, dass nach Ausmass und Dauer des Leidens die schlimmsten Erkrankungen die psychischen sind. Diese trotz 150-jähriger wissenschaftlicher Bemühungen immer noch gewaltige Last wird offiziell und in der persönlichen Einschätzung der Gesunden von ihrer eigenen Lebensperspektive gern beschönigt. Inoffiziell, sozusagen hinter dem Rücken dieses Optimismus, wird den psychisch Kranken allzu oft die Schuld an ihrer Erkrankung oder der unbefriedigenden Genesung zugeschoben; sie werden gar für böse erklärt, sie wollten nicht gehörig mitarbeiten. Was schon die Diskussion über Armut und Arbeitslosigkeit beherrscht, geschieht auch mit den psychischen Krankheiten: Ihre Ursachen werden im Einzelnen gesucht und nicht in der menschlichen Natur oder der Gesellschaft.

Andererseits kann aber die Störung der menschlichen Gemeinschaft durch das abweichende Verhalten von psychisch Kranken vielfach auch den vorurteilsfreiesten Mitmenschen wegen der Dauer , der Heftigkeit der Abweichung oder der Verweigerung einer Behandlung zur Verurteilung des Kranken verführen. Da kann sich ein Teufelskreis bilden, weil viele Kranke grade aus Angst vor den Vorurteilen ihrer Umgebung oder aus eigenen Vorurteilen heraus die Krankenrolle ablehnen. Diese Krankenrolle schützt aber den Kranken vor der Überforderung durch normale Rollenanforderungen und vor einer juristischen Verurteilung bei Nichterfüllung dieser Anforderungen. Wo der Patient mit abweichendem Verhalten die Belastbarkeit seiner Umgebung überfordert, übt diese Konformitätsdruck auf ihn aus. Wenn er sich nicht anpasst, etikettiert sie ihn als psychisch krank. Wenn er nicht bei der Behandlung mitwirkt (also noncompliant ist), verstößt sie ihn, zwingt ihn zur Therapie, mancher im Umfeld wird selbst krank. Natürlich ist jederzeit auch eine Wende zum Guten möglich. In diesem für die Beteiligten höchst verwirrenden und schmerzhaften Krankheitsgeschehen können auch Abwertungen des Kranken fallen- entweder durch ihn selbst (Selbststigmatisierung) oder durch andere (Fremdstigmatisierung). Wie oft das vorkommt, belegt der bekannte Sozialpsychiater Dörner , den ich als Kronzeugen zitieren möchte, in seinen Leitlinien für Angehörigengruppen; da heißt die 7. Regel:

"Alle Familienmitglieder halten die jeweils andere Seite für schlecht"...."Gegen diese Regel ist jeder Arzt machtlos. Er kann sooft er will betonen, dass es sich hier um eine Krankheit handelt. Es ist vergeblich: Der Patient hält seine Angehörigen für schlechte Menschen, die ihm als Eltern bloß die Freiheit, als Ehepartner die Unabhängigkeit oder als Kinder die Liebe nicht geben wollen. Die Angehörigen ihrerseits halten den Patienten für einen schlechten Menschen, der sie terrorisiert, undankbar, gemein, hinterhältig, erpresserisch ist und sie nur an der Nase herumführt. Auch wenn der Doktor sagt, dass der Patient nicht kann, ist es ihre Erfahrung, ihr Erleben und Leiden, dass er nicht will, wenn auch nicht aus Bosheit, sondern aus Hilflosigkeit. Deshalb kann man sich bei der häufigen Frage "kann er nicht, oder will er nicht ?" bestenfalls auf halbem Wege treffen."

Forschungsergebnisse:

Wie üblich, hat die sozialpsychiatrische Forschung auch hier wenig belastbare Ergebnisse, wie man den beschriebenen Stigmatisierungsprozessen theoretisch oder praktisch auf den Leib rücken kann: In einer kürzlich erschienenen englischen Studie geben 40% der Normalbürger, aber 60% der psychisch Kranken an, sie seien kürzlich von ihrer Umgebung beleidigt oder gestört worden. Weil dies bei den psychisch Kranken öfters in der Familie vorkommt und es nur bei ihnen um "Offenlegung und Abwertung wegen psychischer Störung" geht und sie sich dem gegenüber häufiger ohnmächtig fühlen, ziehen 30% der psychisch Kranken, aber nur 13% der Normalbevölkerung wegen Beleidigung oder Störung um.

60% der Fernsehsendungen in Großbritannien, die sich mit der psychischen Gesundheit beschäftigen, beziehen sich auf das Thema Gewalt.

2/3 der in Großbritannien tätigen Träger von Einrichtungen seelischer Gesundheit haben bereits in ihrem Umfeld eine Kampagne erlebt, dass eine Bürgerinitiative sie nicht in der Nachbarschaft haben wollte.

Eine wichtige Quelle der Stigmatisierung durch die Helfer ergibt sich aus fehlender Mitarbeit der Patienten. Es kommt dann zu abwertenden, drohenden Vorwürfen von

Professionellen, die nicht nur zu Recht das Risiko eines solchen Verhaltens an die Wand malen, sondern auch dem Patienten seine mangelnde Mitarbeit als Teil der Symptomatik oder persönliches Versagen vorhalten. Die wenigsten scheinen zu wissen, dass Noncompliance bei Diabetikern in 40-50%, bei Hochdruck- oder Osteoporosekranken in 50% und bei Rheumakranken in 55-70% vorkommt. Die Compliance-Forschung fand, dass über alle Diagnosegruppen 1/3 der Patienten mitarbeiten, 1/3 manchmal, bei bestimmten Aspekten der Behandlung mitarbeiten und ein Drittel niemals ! Die psychisch Kranken unterscheiden sich in der Compliance nicht wesentlich von körperlich Kranken, es ist nicht hilfreich, ihre Noncompliance zum Teil der psychiatrischen Symptomatik zu erklären oder gar zu verdammen- so schwer die Folgen akzeptabel sein mögen. Aber zum Thema Diskriminierung zählt auch, dass die Arbeitssituation der Helfer z.B. auf Akutstationen mit Verkürzung der Liegezeit auf ca. 30 Tage oder in den Nervenarztpraxen oft nicht geeignet ist für eine Gesprächskultur, wie sie nötig wäre, Compliance zu förden.

In einer Studie in Tirol wurde bei der Befragung von Angehörigen gefunden, dass 27% sehr starke oder mittelstarke Furcht hatten, wenn die Diagnose ihrer schizophrenen Angehörigen in der Umgebung bekannt würde. Die übrigen hatten davor nur schwache oder gar keine Furcht. Mir scheint an diesem Ergebnis sehr wichtig, dass Stigmaerfahrung nur einen Teil betrifft, die Rede vom Stigma als einer zweiten Krankheit also sehr verallgemeinert. Ein Teil der mir zugänglichen Daten weist darauf hin, dass durchaus bei vielen Patienten und Angehörigen eine herabsetzende Reaktion der Umgebung ausbleibt. In der Diskussion würde ich dazu gern Ihre Ansicht kennenlernen.

Auch wenn zusammengefasst sehr häufig berichtet wird, dass über Jahrzehnte hin betrachtet Maßnahmen zur Verringerung der Stigmatisierung keinen nachgewiesenen Nutzen gebracht haben: Ich meine, dass es dennoch Sinn macht, wenn wir uns mit dem Thema beschäftigen, was man gegen die Ausgrenzung psychisch Kranker tun kann:

1. Eine offensive Öffentlichkeitsarbeit der psychiatrischen Einrichtungen, die Erfolge herausstellt, ohne Schwierigkeiten und manche unlösbaren Probleme zu verleugnen.

2. Ein energisches Festhalten an der von der Psychiatrie-Enquete und der Aktion psychisch Kranke erhobenen politischen Forderung nach der Gleichbehandlung von psychisch Kranken gegenüber körperlich Kranken. Das ist hinsichtlich Ausstattung, Kostenaufwendungen, Forschung und vielem anderen längst nicht erreicht.

3. Es wäre zu diskutieren, ob wir das bayrische Antistigma-Programm mit dem Netzwerk SANE hier bei uns im Kleinen nachmachen wollen: Im Anschluss an erfolgreiche Bemühungen der Verbraucherinitiative NAMI (USA) soll in Bayern versucht werden, dass Stigmatisierte ihr Erleben melden, diese Meldung von unabhängigen Experten und Betroffenen ausgewertet wird und die Stigmatisierer ( z.B. Zeitungsberichte oder Werbung) aufgefordert werden, die Stigmatisierung zurückzunehmen. Wenn das nicht geschieht, wird über ein Netzwerk im Internet die Öffentlichkeit informiert.

4. Die Profis brauchen Ausbildung und Selbsterfahrung, um sie für das Thema "Stigma" zu sensibilisieren und wach zu halten, damit sie es mit den Patienten besprechen und ihnen helfen können, z.B. auch eine ev. Tendenz zur Selbst-Stigmatisierung zu bearbeiten. Das gilt umgekehrt auch für eine ev. Stigmatisierungstendenz der Profis, die z.B. bei "Burn-out", einer Art Berufskrankheit, recht häufig vorkommt.

5. Der Umgang mit Stigma (Stigma-Management) sollte ein viel größeres Gewicht im Alltag der Behandlung erhalten:

- Kann ich den Stigmatisierer in mir zum Freund gewinnen, der mich warnt: Mein Verhalten könnte Umgebungsreaktionen auslösen, die ich mir ersparen will ?

- Im Umgang mit äußeren Stigmatisierern könnte der Patient lernen zu denken:" Ich bin nicht persönlich gemeint, der arme Normale hat's nötig."

- Der Patient übt, wo er seine Diagnose bekannt gibt, wo nicht, wo er sich tarnt, wo Vertrauen wagt, alles in kleinen Schritten.

-Speziell bei Schizophrenie-Kranken hat sich in ausgedehnten Untersuchungen erwiesen, dass Rückfälle wesentlich häufiger werden, wenn Angehörige gegen abweichendes Verhalten mit heftiger Kritik, starkem Gefühlsausdruck und starker persönlicher Beteiligung vorgehen. Durch ein spezielles Training können sie sich das gegenteilige Verhalten aneignen und so die Rückfallgefahr drastisch senken. Ein Teil dieser Trainingsprogramme geht davon aus, dass die mit dem Patienten von Angesicht zu Angesicht verbrachte Zeit der Angehörigen unter 35 Stunden pro Woche liegen sollte. Leider gibt es m.W. hierzulande keines dieser in England etablierten Programme: Wir könnten sie als Teil einer entwickelten Versorgungslandschaft fordern.

6. Wir leben in einer Kultur des Maximalismus, der Gutes nicht gut genug ist, wo es immer größer, höher, weiter voran zu gehen hat; das ist eine Kultur, die sich schwer tut, für psychisch Kranke einen würdigen Arbeitsplatz oder einen würdigen Platz im Leben einzuräumen. Wir sehen das an den exzessiv erhöhten Arbeitslosenziffern für psychisch Kranke und an deren steigenden Frühberentungen. Wir könnten also schauen, wie wir eine Kultur der Fehlerfreundlichkeit unterstützen, in der Irren als Teil der menschlichen Natur gilt, die mit Humor den Satz des Göttinger Philosophen Lichtenberg lebt "Wir irren alle, nur jeder irret anders".

überarbeitet 1/2017

 

 

 

 

 
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