Einleitung
In den USA hat sich die Überprüfung der Qualität psychiatrischer Behandlungen durch Fachkollegen (= "peer review") als Mittel der Qualitätssicherung auch im Interesse der Kostenträger an einer Verkürzung von Aufenthaltsdauern bewährt. Auf diese Weise konnte anscheinend eine Vertrauenskrise zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern überwunden werden. Leider ist der Gesichtspunkt der Sicherung von Strukturqualität und Prozessqualität gegenüber dem Kostensenkungsinteresse dabei in den Hintergrund getreten (Elkins et al 1989).
Seit 1.1.1989 ist nach § 137 SGB V die Sicherung von Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität für die Krankenhäuser bindende Verpflichtung. Leider gibt es im deutschen Sprachraum kein allseits anerkanntes Verfahren der Qualitätssicherung, mit dem den genannten gesetzlichen Anforderungen oder gar den sehr viel weiter ins Detail gehenden normativen Vorgaben der DIN ISO 9004 Teil 2 (Pinter et al 1995) auch in der Psychiatrie Genüge getan werden könnte.
Der folgende Vorschlag für ein Qualitätssicherungsverfahren in der psychiatrischen Versorgung von mittel- und langfristig stationär behandelten Patienten baut auf die Erfahrungen auf, die der Verfasser mit dem"Goal Attainment Scaling" (GAS) seit mehreren Jahren gesammelt hat (Bolm 1994, 1995). GAS ist ein psychiatrisches Evaluationsverfahren, das Auskunft gibt, ob das für den Patienten individuell Möglich erreicht wurde. Als Maß des Erfolges wird nicht eine für alle gleiche Norm gewählt. Vielmehr ist der einzelne Mensch vor seinem durch Krankheit und Behinderung eingeschränkten Horizont an vernünftigerweise zu erwartenden Veränderungen das Mass des Erfolges.
Bekanntlich versagt die klassische Evaluation an normativen Maßstäben im Bereich der mittel- und langfristig Erkrankten, weil z.B. ein Nullresultat ebenso ein großer Erfolg sein kann (es wurde eine wahrscheinliche Verschlimmerung verhütet), wie es tatsächlich das Verfehlen eines gerechtfertigterweise zu erwartenden günstigeren Behandlungsergebnisses bedeuten kann. Nur der individuelle Erfolgsmaßstab sichert in dieser Lage eine gültige Messung ! Beim GAS gibt es für jeden Patienten einen eigenen Maßstab, was Erfolg oder Mißerfolg bedeutet, in Abhängigkeit von der Prognose.
Die meisten Verfahren zur Qualitätssicherung, so auch die DIN ISO 9004 Teil 2, verzichten darauf, die Qualität durch einen externen Gutachter direkt vor Ort am Patienten überprüfen zu lassen, wahrscheinlich aus Kostengründen. Damit wird aber ein selbstverständlicher Vorteil der Fremdbeurteilung verspielt, der z.B. beim Laborringversuch ganz selbstverständlich seinen bewährten Platz in der Qualitätssicherung hat.
Die Erfahrungen des Verfassers mit dem "Goal-Attainment-Scaling" in der Abteilung für Sozialpsychiatrie der Freien Universität Berlin sowie mit vereinfachten Nachfolgemodellen zuerst in der Klinik Phönix, dann im Hospital Kastanienallee und schließlich in den Sonderkrankenhäusern Birkenhain und Erlengrund belegen den unmittelbaren klinischen Nutzen dieses Evaluationsverfahrens. Wie vielfach in der Literatur zum GAS nachgewiesen (Bolm 1995), ist die Beteiligung des Patienten an der Therapieplanung und die Orientierung der Teamarbeit an konkreten, den Entwicklungschancen des Patienten angepassten Zielen von unmittelbarem therapeutischen Nutzen. Schließlich schärft GAS die Aufmerksamkeit für die Bereiche, wo Patienten und Therapeuten NICHT dasselbe wollen.
Andererseits ist aber auch ganz deutlich geworden, dass es schwierig ist, die Kunst des Möglichen zuverlässig zu bewerten. Die unabhängige Meinung eines Fachkollegen, nicht allein die Meinung dessen, der die Therapie durchgeführt hat, sollte über Erfolg und Misserfolg entscheiden.
Problemanalyse
Viele Autoren warnen zu Recht davor, dass für einen aufgeblähten Apparat der Qualitätssicherung u.U. mehr Geld ausgegeben wird, als Kosten eingespart werden (Fauman, 1989). Die Erhebung von Routinedaten (Basisdokumentation z.B.) neben der klinischen Arbeit ist oft mit großen Unzuverlässigkeiten behaftet, da sie vom Therapeuten als fremd, nicht zum Therapieprozess zugehörig erlebt wird. Deshalb ist es als eine Stärke des GAS zu sehen, dass die Evaluation mit dem Therapieprozess verknüpft wird: Das Aushandeln des Behandlungsvertrages, das Einbeziehen von Patienten- und Angehörigenwünschen und die Auseinandersetzung über das "Machbare" im therapeutischen Gespräch ist hier essentieller Bestandteil der Evaluation.
Andererseits hat die methodenkritische Untersuchung des GAS ergeben, dass erhebliche Verzerrungen der Ergebnisse durch zu hoch oder zu niedrig angesetzte Erwartungen an die Prognose des Patienten vorkommen. Deshalb soll in der vorliegenden Projektskizze die individuumbezogene, prognoseabhängige Evaluation durch die "objektive" Basisdokumentation ergänzt werden.
Die Erfahrungen mit der Enthospitalisierung von Langzeitpatienten belegen, wie häufig in der Vergangenheit Fehleinschätzungen über die Prognose von Patienten und damit Fehlplazierungen vorgekommen sind. Deshalb ist für die Zukunft das stichprobenartige Einholen einer 2. Meinung über die Prognose erfolgversprechend: Es geht um die Gefahr der Sackgasse verstiegener Hoffnungen auf der einen Seite (Überrehabilitation, Übertherapie) und auf der anderen Seite darum, die Gefahr frühzeitiger Resignation bei eventuell doch erfolgversprechender Langzeittherapie und Spätrehabilitation zu vermeiden.
Konzeptidee/ Neue Qualität
Damit zentriert dieser Projektvorschlag die Qualitätssicherung auf zwei langjährig bekannte Problemfelder der mittel- und langfristigen psychiatrischen Behandlung: zu großer Rehabilitationsdruck als Ursache u.a. von Rezidiven und von Suizidalität auf der einen Seite, zu frühzeitiges Aufgeben der Hoffnung für den Patienten auf der anderen Seite. Die Entscheidung über das Mögliche wird aus dem Monopol des medizinischen Experten herausgelöst und einer multiprofessionellen Reflexion und dem Dialog mit Patienten, Angehörigen sowie externen Experten ("second opinion") geöffnet. Die berufsgruppenbezogene teamöffentliche Rückmeldung über die im Einzelfall erreichte oder verfehlte Qualität verbessert den Standard des interdisziplinären Arbeitens und zugleich die Transparenz der Arbeitsweise für die Nutzer der Einrichtung.
Dadurch, dass die Patienten für diese exemplarische Evaluation zufällig ausgewählt werden (wobei ihre Teilnahme selbstverständlich ihrer vorherigen Zustimmung bedarf), ist die Repräsentativität dieser "Stichprobe" aus der Gesamtheit der Behandelten gewährleistet. Andererseits muss durch einen noch näher auszuarbeitenden Modus der Rotation der externen Fachleute und die Bindung der Auswahl der Fachleute an eine krankenhausunabhängige Institution dafür Sorge getragen werden, dass tatsächlich eine unabhängige externe Bewertung stattfindet. In den USA ist mit der "peer-review" (Elkins 1989) die US-amerikanische psychiatrische Fachvereinigung in diese Auswahl von "peers" eingebunden. Das Spezifische dieses Projekts ist die Multiprofessionalität beim Vorgehen (während Melun und Sinoris 1993 nur die Beteiligung der Ärzte an der Qualitätssicherung für nötig halten, hatte Fauman 1989 immerhin eine multiprofessionelle Beteiligung befürwortet). Es sollen im Wechsel ausgewiesene Fachleute aller im Krankenhaus vertretenen Fachgruppen - Psychiater, Sozialarbeiter, Ergotherapeuten, Krankengymnasten, Pflegekräfte-an dieser exemplarischen Qualitätssicherung beteiligt werden. Die Verbindung dieses Unterfangens mit der Teamfortbildung dient zugleich der Übertragung gewonnener Erkenntnisse in den Arbeitsalltag wie der Einsparung: Kritische Fallbesprechungen werden ohnehin veranstaltet, die Ausgaben externer Einrichtungen für die Qualitätssicherung in unserem Hause werden aufgewogen durch unsere Beiträge zur Qualitätssicherung in einem anderen Hause.
Praktische Umsetzbarkeit
Durch eigene methodenkritische Untersuchungen ließ sich sichern, dass für die Formulierung des Therapieplans nicht auf das klassische GAS verzichtet werden kann (Bolm 1995). Der Therapieplan soll das denkbar beste und das denkbar schlechteste Ergebnis als Extremwerte und in der Mitte das erwartete Eregebnis, aufgefächert für 3-5 zentrale Problembereiche enthalten und als weiteren Ankerpunkt für eine normative Erfolgsschätzung den Ausgangsbefund bei Beginn der Behandlung. (Bolm 1995). Die vierjährige Erfahrung mit Therapieplänen in der Klinik Phönix hat gelehrt, dass sogar die vereinfachte Version eines Therapieplans im Routinebetrieb nicht zuverklässig von den Klinikern nebenbei erstellt werden kann. Deshalb ist für das geschilderte Projekt die Stelle eines Dokumentationsassistenten erforderlich. Dieser sollte auch die behandlerunabhängige Evaluation der Pläne sicherstellen, die nicht in den exemplarischen Fallbesprechungen mit externen Fachleuten bewertet werden. Es hat bereits drei erfolgreiche Probeläufe solcher Überprüfungen von Therapieplänen durch geladene Gäste gegeben, die sich in der Mehrzahl als sehr befruchtend für die weitere therapeutische Arbeit herausgestellt haben.
Aus Gründen der Arbeitsökonomie wird vorgeschlagen, alle sechs Wochen aus einer jeweils anderen Berufsgruppe einen externen Fachmann zu einem Drei-Stunden-Termin einzuladen. Davon wäre eine Stund als Teamfortbildungszeit vorgesehen, in der die Ergebnisse der kritischen Analyse des zufällig ausgewählten Behandlungsverlaufs vorgestellt und erörtert werden. Zuvor sollen ca. zwei Stunden für Gespräche mit Patienten und Angehörigen sowie für die Sichtung der Dokumentation angesetzt werden. Es ist eine zukünftige Aufgabe, diese vorläufige Schwerpunktsetzung bei der Qualitätsüberprüfung berufsgruppenspezifisch abzuwandeln, um Raum zu lassen für alternative "Diagnoseverfahren" zur Schwachstellenanalyse und zur unabhängigen Einschätzung des Patienten. Auf dem Hintergrund dieser detailierten Kenntnis von Patient, Umfeld und Vorgehen der Behandler kann eine brauchbare Einschätzung der Behandlungsqualität unter dem Gesichtspunkt von Struktur, Prozess und Ergebnis erwartet werden, die den Besonderheiten des einzelnen Patienten und seiner einnmaligen Situation auch gerecht werden kann.
Eine solche exemplarische, in die Tiefe gehende Vorgehensweise wird das vorurteilsfreie Überprüfen verborgener Grundannahmen ermöglichen, das nach Newbold (1995) für den qualitativen Sprung zu besten demonstrierten Praktiken erforderlich ist. Faunman hat 1989 festgestellt, dass die Überprüfung der Qualitätskriterien selten daraufhin untersucht worden ist, ob der Vorgang der Überprüfung seinerseits die Ergebnisse der Behandlung verbessert habe.
Dieser Vorschlag für den Berliner Gesundheitspreis will keineswegs die in überreicher Zahl vorhandenen Datenfriedhöfe vergrößern. Deshalb gehört unbedingt die wissenschaftliche Evaluation der Qualitätssicherung dazu: Durch Kooperation mit einer wissenschaftlichen Einrichtung soll überprüft werden, ob ein klinischer Nutzen dieser Form der Qualitätssicherung nachweisbar ist. Dabei ist natürlich die Zusammenführung der Behandlungsverläufe mehrerer Einrichtungen über mehrere Jahre erforderlich, um zu genügenden Gruppengrößen zu kommen.
Strukturelle und finanzielle Auswirkungen
Es werden Stellenanteile qualifizierten klinischen Personals verschiedener Berufsgruppen in einen gemeinsamen Pool ähnlich arbeitender psychiatrischer Einrichtungen eingebracht. Diese Stellenanteile gehen nur scheinbar der einzelnen Einrichtung verloren, fließen sie doch in Form der regelmäßigen multiprofessionellen Fortbildung und Rückmeldung über den eigenen Leistungsstand wieder zurück. Eine derartige dreistündige Veranstaltung alle sechs Wochen pro TK dürfte im Rahmen dessen liegen, was für andere Fortbildungsaufgaben ohnehin aufgewendet wird und stellt somit lediglich eine Umschichtung von Mitteln in eine andere Organisationsform dar. Andererseits verspricht die Unabhängigkeit der externen Berufskollegen von alltäglichen Routinen und Hierarchien, verspricht der betriebsöffentliche Charakter der Rückmeldung und die Einbindung der unmittelbar geäußerten Sichtweisen von Angehörigen und Patienten sowie die Betonung der Prognosebezogenheit der Therapieziele eine höhere Wirksamkeit dieser Fortbildung. Wie in der Norm DIN ISO9004 Teil 2 ausgeführt, muss die Krankenhausleitung die kritischen Rückmeldungen auf diesen Prozess der Qualitätssicherung ständig in ihre laufenden Entscheidungen einbeziehen, um ggf. erforderliche Kurskorrekturen umzusetzen.
Zusätzliche Kosten entstehen durch die Wegezeiten der "peers", durch den Aufwand des Dokumentationsassistenten sowie den Forschungsaufwand für die Auswertung der Daten, sie sind als vom Gesetzgeber geforderte Strukturverbesserung im Rahmen der Pflegesatzverhandlungen abzugelten.
Literatur
Bolm,W 1994: Goal Attainment Scaling: Gütemaße und praktische Erfahrungen bei 397 psychiatrischen Behandlungsverläufen. Teil 1: Überprüfung von Validität und Reliabilität. Z klin Psychol Psychopathol Psychother 42, 128-38
Bolm W 1995: Goal Attainment Scaling: Gütemaße und praktische Erfahrungen bei 397 psychiatrischen Behandlungsverläufen. Teil 2: Praktische Erfahrungen mit einer vereinfachten Version des goal attainment scaling im Klinikalltag der mittelfristigen rehabilitativen Behandlung. Z klin Psychol Psychopathol Psychother in Vorbereitung
Elkins A M, Hamilton J M, Altman H D: Peer Review. In: Comprehensive Textbook of Psychiatry. Vol. 2. 1989. Eds: Kaplan H I, Sadock B J, Williams & Wilkins, Baltimore.
Fauman M A, 1989: Quality Assurance Monitoring in Psychiatry. Am J Pychiat 146:9, 1121-1130
Melun M M, Sinioris M E, 1993: Total Quality Managemnent in Health Care: Taking Stock. Quality Management in Health Care 1(4),59-63
Newbold P A, 1995: Benchmarking in Health Care- Paradigms, Culture, and Change. Quality Management in Heath Care 3(3), 72-77
Pinter E et al, 1995: DIN ISO 9004 Teil 2 als Leitlinie für ein zeitgemäßes Qualitätsmanagement im Krankenhaus. Krankenhausumschau 2-3 (KU-Spezial: Qualitätssicherung) 22-32
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