Übers Niederträchtige
niemand sich beklage,
denn es ist das Mächtige,
was man Dir auch sage !
Goethe
Wenn Finzen et al. im genannten Aufruf Begriffe wie objektivierendes, neoliberales Effizienzdenken in Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft zur Beschreibung des makrosozialen Trends vorgeben, dann greifen sie zu kurz: Der internationale Vernichtungswettbewerb rivalisierender Kapitalgruppen hat sich so verschärft, dass stabilisierende soziale Strukturen (vgl. etwa die Abwicklung der Nischenarbeitsplätze) beschleunigt erodieren, es damit auf breitester Front zu einer Schwächung von Stress puffernden Potentialen des sozialen Umfeldes der psychisch Kranken wie ihrer Helfer kommt, zu einer nachlassenden Bindungskraft von Religion, Gemeinsinn, Solidarität. Die zunehmende Ausbeutung in der kapitalistischen Gesellschaft prekarisiert die Lebensumstände immer größerer Gruppen und verknappt relativ zum Bedarf die Mittel für Therapie und Rehabilitation; wer sich als Betroffener oder Therapeut nicht anpasst, gerät unter Druck. Das gilt für die Feuerwehr wie das Theater, für die Allgemeinmedizin wie die Sozialpychiatrie.
Die Illusionen der 68-iger über die Handhabbarkeit einer Revolution, über die Integrierbarkeit der nicht Integrierbaren, die Verstehbarkeit der Psychosen, waren Riesenerwartungen gemessen am Machbaren und an den eigenen Kräften - der Abschwung aus dem Überschwang ist unvermeidlich; der im Aufruf implizite Vorwurf, die ehemals Engagierten seien ermattet, greift wiederum zu kurz.
Die Zerstreuungskultur der neoliberalen Gegenseite gebietet über Heerscharen bestens ausgebildeter Mietmäuler, verfügt über vergleichsweise grenzenlose Propagandamittel, das ganze Arsenal der repressiven Entsublimierung der Spassgesellschaft.
Die Trennung der Sozialpsychiatrie als Bewegung für die Schwerstkranken von der Interessenvertretung für die viel größeren Gruppen der weniger schwer bzw. chronisch Kranken, der akut Kranken, der subsyndromal Leidenden hat unsere politische Durchsetzungskraft unnötig geschwächt.
Sozialpsychiatrie war eine der vielen Moden dieses Fachs- damit ist ihr Kommen und Gehen normal, kann gelassen registriert werden. Wer ein modisches Thema sucht, ist längst bei einem der Neuro-Psycho-Ismen versorgt.
Bei mir persönlich war das sozialpsychiatrische Engagement auch eine Antwort auf familiäres Leid: Der Tod der Betroffenen und eigene Psychotherapie lassen dieses biografische Motiv verblassen.
Der sozialpsychiatrische Kampf gegen Stigma und Ausgrenzung versteigt sich nicht selten zu einem illusionären Maximalismus, wo seine Abschaffungsrhetorik offensichtlich die conditio humana ignoriert: Das Böse zeigt sich als Lust an Macht und Gewalt, als Fressen und Gefressen werden. Dagegen gerichtete leere Heilsversprechen sind ein Ballast, der viele mögliche Bündnispartner der sozialpsychiatrischen Bewegung in ihrem Alltagswissen über den Wahnsinn vor den Kopf stößt.
So wie nicht erst seit Lessing die Kunst nach Brot geht, ist es auch mit der Wissenschaft und sollte es bei den Helfern ganz anders sein ? Die Investoren haben längst den Braten gerochen, dass mit kritischer Wissenschaft kein Staat zu machen ist. Und da mit unsereins und unserer Klientel so richtig weder Profit noch gar eine Revolution zu machen ist, sitzen wir notwendigerweise zwischen den Stühlen. Es sollte uns ehren, wenn wir nicht zu denen gehören, die die Schleppe von des Kaisers neuen Kleidern (z.B. Neofeudalismus, z.B. Szientismus) tragen.
"Sozialpsychiatrische Reformen" waren ziemlich weitgehend als Abschaffung der Anstalt durch ein Anti definiert, nicht durch ein weiterführendes Pro: Die meisten sozio- und psychotherapeutischen Innovationen sind auf eigenem Grund gewachsen.
Hilfen auch für die psychisch Schwerkranken müssen ständig verbessert und weiterentwickelt werden; die Wirksamkeit dieser Verfahren nachweisen zu können ist ebenso selbstverständlich , wie die Verschwendung knapper Mittel für Schädliches oder Unnützes das Ansehen der Sozialpsychiatrie schmälert. Sozialpsychiatrische Qualitätskriterien wie z.B. Empowerment, Integration in die Alltagswelt statt Ausgrenzung oder individuelle, prognosegeleitete Behandlungsziele sind nur so gültig, wie sie nachweisbar zum größeren Nutzen der Patienten beitragen.
Die sozialpsychiatrische Praxis muss gegen das Kapitalinteresse an Kürzung und Priorisierung verteidigt werden, wie alle soziale und kulturelle Reproduktion. Das verlangt breite politische Bündnisse, nicht einen sozialpsychiatrischen Sonderweg. Nicht der Mangel an sozialpsychiatrischer theoretischer Klarheit oder Bewegtheit ist das Problem, sondern die aggressive Übermacht des Kapitals.
zuletzt bearbeitet 10/2018
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