1. Epiodemiologie
Eines der am besten gesicherten
Ergebnisse der Epidemiologie psychiatrischer Erkrankungen ist das
gehäufte Auftreten von Schizophrenie, Psychopathie (1) , Alkoholismus,
organischen Psychosen und Delinquenz (1a) in der unteren Unterklasse
(2), gemessen an Einkommen, Beruf, formaler Bildung sowie u.U. Wohnsitz
und ethnischer Zugehörigkeit. Neurosen und Affektpsychosen sind mit
ziemlicher Sicherheit nicht klassenabhängig verteilt, über die
psychosomatischen Krankheiten wissen wir diesbezüglich noch zu wenig.
Die Inzidenzrate gibt die in einem Zeitabschnitt neu aufgetretenen
Fälle pro Bevölkerungszahl an, die Prävalenzrate das zahlenmäßige
Verhältnis aller Patienten, die an einer Krankheit leiden, zur
Bevölkerung. Letztere umfasst also auch Rückfälle und chronische
Verläufe.
In der Unterklasse ist die Inzidenzrate
für Schizophrenie mehr als doppelt so hoch wie die entsprechende Ziffer
für die Oberklasse (2), die Prävalenzziffern der beiden Klassen
verhalten sich sogar wie 8:1 . Die Schizophrenie entwickelt sich also am
Boden der Gesellschaft nicht nur häufiger, ihr Verlauf ist hier auch um
ein Vielfaches stärker durch Chronizität und Rückfälle gekennzeichnet.
Je größer die individuelle Belastung
durch widrige Lebenserfahrungen ( Zerbrechen der Familie, Armut,
Krankheit, Arbeitslosigkeit usw.), desto wahrscheinlicher ist der
Ausbruch einer psychiatrischen Krankheit. Die Bevölkerung der
Unterklasse reagiert unter Stress bevorzugt mit einer Psychose, die der
Oberklasse eher mit einer Neurose. Bei gleichem Stress ist der sozial
Tieferstehende weniger widerstandsfähig und erkrankt mit der
bösartigeren Krankheitsform. (3)
Die Abhängigkeit der psychischen Gesundheit von wirtschaftlichen Gegebenheiten kann man an den folgenden Ergebnissen ablesen:
- Wenn die Beschäftigungsziffer sinkt, steigt statistisch signifikant die Erstaufnahmeziffer der Hospitäler für Psychosen (4).
- Die Schizophrenierate ist in manchen
Berufen, die im Rückgang begriffen sind, höher als in anderen Berufen
mit Expansionstendenz (5).
- Innerhalb der USA hat man in Regionen
mit stagnierender Wirtschaft die ausgeprägteste Häufung psychiatrischer
Leiden festgestellt (6).
- Die Slumbezirke der Großstädte zeigen
im Vergleich mit den besser gestellten Randbezirken eine bis zu 20 mal
höhere Psychoserate. Das kann nur zum kleineren Teil durch sozialen
Abstieg oder geographische Mobilität erklärt werden. (2, 7 )
2. Pathogenese
Die Familie hat eine Schlüsselstellung
in der Entwicklung erlebnisbedingter Krankheiten. Es kann hier nicht die
normale Entwicklung des Kindes, sondern nur eine Anzahl der sie
störenden sozialen Faktoren besprochen werden. Die Unterklasse steht
unter scharfem wirtschaftlichen Druck: Sehr geringes Einkommen bei
grossen Familien, Arbeitslosigkeit oder sehr unbefriedigende Arbeit,
beengte Wohnverhältnisse, Das Erlebnis von Not, Sorge oder Resignation
der Eltern belastet die Kinder. Sie erfahren früh, wie gering der
soziale Rang ihrer Eltern geschätzt wird. Beides zusammen erschwert die
Bildung eines Ich-Idealas, das den Weg aus dem Elend weisen könnte. In
den engen Wohnungen müssen sich die Kinder unter dem Druck der Eltern
und Nachbarn wie kleine Erwachsene aufführen. Es fehlt der großen
Geschwistergruppe aus Mangel an Zeit und Befähigung der Eltern eine
intensive und individuelle Zuwendung, wie sie zur vollen Entfaltung der
Sprache, zur Ich-Integration der Triebe und zur Entwicklung der
Introspektionsfähigkeit erforderlich ist (3, 8).
Die Eltern spielen eine autoritäre
Rolle, indem sie durch massive Strafe äußerliche,
nichteinsichtige Unterwerfung unter konventionelle Regeln erzwingen -
so, wie sie es an sich selbst am Arbeitsplatz erfahren (9).
Das Erlebnis dauernder Knappheit, die
Aussichtslosigkeit der Hoffnung auf sozialen Aufstieg und das negative
Vorbild der Eltern führen zur Ausbildung einer geringen
Frustrationstoleranz. Die ökonomische Unterprivilegierung trägt also auf
verschiedene Weisen zur Entwicklung ich- schwacher Individuen bei,
wodurch zugleich die Widerstandsfähigkeit gegenüber psychischem Stress
abnimmt, das Morbiditätsrisiko also steigt.
Die zweite Gruppe der pathogenen sozialen Faktoren ist in ideologischen Werthaltungen zu suchen.
Die herrschende Leistungsideologie bewirkt, dass man vor sich selbst
und anderen Ansehen in dem Maße genießt, wie man verdient und
konsumiert.
Besonders die Mittel- und Oberschicht
wird in der Kindheit durch Androhung von Liebesverlust zu Triebverzicht
und Leistung gezwungen. Als Erwachsene können sie sich von dieser
Leistungsorientierung nicht lösen, obgleich die sozialen Gratifikationen
nicht im Entferntesten für den Triebverzicht und die Einengung des
Erlebnishorizonts entschädigen können. Die resultierende Enttäuschung
und Aggression wird in verbissener Mehrleistung, in neurotischem
Verhalten oder psychosomatischen Erkrankungen verarbeitet. Diese
ständige Aggression kann auch manipulativ in Vorurteile gegen
Minderheiten und militaristische Einstellungen umgewandelt werden, was
periodisch zu Pogromen oder Krieg führt.
Der Unterklasse werden durch Schule und
Massenkommunikationsmittel einige der Mittelklassenormen eingeprägt. Wie
oben gezeigt, fehlt ihnen aber sowohl der psychische Apparat, um ein
den Mittelklassenormen entsprechendes Verhalten zu steuern, als auch das
Geld, um einen solchen Lebensstil zu imitieren. Diese Diskrepanz
zwischen Zielen und verfügbaren Mitteln ist der zweite Faktor der in der
Unterklasse gehäuft auftretenden psychiatrischen Leiden (10). So fand
man bei schizophrenen Patienten der Unterklasse signifikant häufiger vor
Ausbruch der Krankheit schwere seelische Belastungen, die eindeutig mit
ihrer wirtschaftlichen Lage (12) zusammenhingen und eine Kindheit und
Jugend, die durch ein übermäßiges Insistieren der Eltern auf sozialem
Aufstieg, Leistung und Perfektion gekennzeichnet waren (11). Es ist hier
zu betonen, dass eine starke Leistungsmotivation und starker
Leistungsdruck (im Vergleich zu den nicht-schizophrenen Geschwistern,
Neurotikern und Gesunden) auch den schizophrenen Patienten der
Mittelklasse eigen ist, dass aber in der Unterklasse diese pathogenen
Merkmale durch Ich-Schwäche und Unterprivilegierung in eine viel
aussichtslosere Lage führen.
3. Therapie
Warum verläuft die Schizophrenie in der
untersten sozialen Klasse so viel schwerer ? Es ist zunächst
wahrscheinlich, dass vermehrtes Morbiditätsrisiko und schlechterer
Verlauf Hand in Hand Folgen der Ich-Schwäche sind. Weiterhin erhalten
die Mitglieder der Unterklasse eine erschreckend viel schlechtere
Therapie: In New Haven erhalten 52 % der Schizophrenen aus der
Oberklasse, aber nur 10 % in der Unterklasse eine Psychotherapie. 90%
der Oberklasse-Patienten sind in Privatspitälern, verglichen mit 11 %
bei den Unterklassepatienten. 10 % der Oberklasse-Patienten erhalten
keine Behandlung, dagegen 52% der Unterklasse-Patienten. (2) Diese
Unterklasse-Patienten werden von den weniger gut ausgebildeten
Therapeuten betreut (13, 14), die Therapie dauert im Vergleich zu den
Oberklasse-Patienten auch signifikant kürzer an (14).
Eine große Rolle spielt das
Gesundheitsverhalten der Bevölkerung auch für die Früherkennung und
Rehabilitation der psychiatrischen Patienten. Hier sind Patienten aus
der Unterklasse ganz massiv benachteiligt: Die Fähigkeit zur adäquaten
Beurteilung psychischen Krankseins ist fast ausschließlich auf die
gebildete Oberschicht beschränkt (15), entsprechend kommen auch 78 % der
Patienten aus dieser Schicht von sich aus oder auf Ratschlag der
Familie zur Behandlung, während 71 % der Psychotiker aus der
Unterschicht erheblich später im Verlauf ihrer Krankheit über staatliche
Stellen zwangsmäßig eingewiesen werden (2).
Die Rehabilitation von
Oberklasse-Patienten ist viel leichter, da ihre Angehörigen
finanzkräftig sind und mehr Einfühlung in die Situation des Kranken
haben. In der Unterklasse bedeutet der Patient finanziell und räumlich
eine Last; die Ablehnung der Angehörigen gegen eine Zusammenarbeit mit
der Klinik wächst auch durch die ablehnende Behandlung, die sie selbst
dort erfahren, gemäß der sozialen Einschätzung durch Ärzte und
Pflegepersonal (16). Am schwerwiegendsten ist sicher die große
Vorurteilsbereitschaft der Unterklasse, die auf das Ungewohnte des
psychisch Anders-Seins mit feindlicher Zurückweisung reagiert (15).
Diese Vorurteilsbereitschaft erwächst aus der Unfähigkeit, sozial nicht
akzeptabele Strebungen der eigenen Psyche wahrzunehmen, sodass diese auf
andere projiziert und dort bekämpft werden müssen. Die Neigung zum
Vorurteil hängt mit der Ich-Schwäche zusammen und bedingt eine nicht zu
unterschätzende Manipulierbarkeit der Unterklasse.
4. Die Rolle der Familie
Die Familie wird allgemein als Keimzelle
des Staates angesehen, als unabdingbare Mittlerin im
Sozialisationsprozess, dem Wachstum des Kindes im "sozialen Uterus". Die
Verherrlichung der bestehenden Familienstruktur wird durch die
Ergebnisse der Sozialpsychiatrie und der psychoanalytisch orientierten
Faschismusforschung Wilhelm Reichs (17) ernstlich in Frage gestellt:
In einer Unzahl unserer Familien wird
den Kindern eine krankhafte Triebverdrängung aufgezwungen, deutlichstes
Beispiel ist die Verfolgung der kindlichen prägenitalen Sexualität und
die Unterdrückung der genitalen Sexualität bis weit in die Nachpubertät
hinein. Auf diese Weise werden die Kinder zu neurotischen und
psychosomatischen Leiden prädestiniert, gleichzeitig bieten die
verdrängten Impulse einen Ansatz zur Manipulation der Massen. Am
eindrücklichsten wird das sichtbar an der Ideologie des deutschen
Faschismus; die Agitation für die Reinerhaltung der Rasse, für den
Schutz der nordischen Frau vor Blutschande appeliert an die Inzestangst.
Diese wissenschaftlich widersinnigen Formeln verwandelten sich in eine
historische Macht, indem sie gegen die in der bürgerlichen Familie
entstandenen Ängste einen Schutz gewährten und so die Masse an sich
fesselten.
Wenn die politische Machtstellung einer
Gruppe sachlich nicht mehr zu rechtfertigen ist, bindet sie das Volk
durch massenhafte Mobilisierung von Vorurteilen und autoritären
Haltungen an sich. Die Grundlage für die Verfügbarkeit dieser
Mechanismen liegt ebenfalls in den Familien, die die Ichstärke der
Kinder nur mangelhaft entwickeln und sie dazu führen, in schwierigen
Situationen den einzigen Ausweg in der bedingungslosen Unterwerfung
unter einen mächtigen Führer, eine gesellschaftliche Vater-Figur zu
suchen. Das Kind konnte nie seine eigenen Bedürfnisse gegen den Willen
der Eltern befriedigen, musste Lust aus der Unterwerfung gewinnen. Wenn
dann im Erwachsenenalter die Herrschaftsverhältnisse am Arbeitsplatz
oder wo auch immer die Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse versagen,
wiederholt sich die kindliche Identifikation mit dem Aggressor, die
resultierende Unlust macht sich in Vorurteilen oder Pogromen gegen
schwache Minderheiten wie Neger, Juden oder Studenten Luft und die
todkranke alte Herrschaft hat einmal mehr eine Verschnaufpause gewonnen.
Die zum guten Teil familiär bedingte Ich-Schwäche ist zugleich Ursache der individuellen und der gesellschaftlichen Krankheit.
Gehen wir davon aus, dass in der frühen
Kindheit erlernt Einstellungen und Verhaltensweisen das Leben des
Erwachsenen weitgehend prägen. Das Kind erhält von seinen Eltern
Belohnungen nur, wenn es sich ihren Vorstellungen von kindlichem
Wohlverhalten unterordnet. Die Absicht, elterliches, später soziales
Ansehen zu erwerben ist eine sekundäre Motivation. In der Ohnmacht des
Kleinkindes lernt man den Verzicht auf primäre Wünsche, zugunsten dieses
sekundären Motivs. Vor dem Hintergrund pathologisch starker Ausprägung
dieser Bereitschaft zur Ersatzbefriedigung werden weitverbreitete und
erschreckende Entfremdungsphänomene des Erwachsenenlebens als Korrelate
der Leistungsideologie verständlich: Die Bereitschaft, für die Karriere
jahrzehntelang auf persönliche Beziehungen zu verzichten, die
Unterwerfung unter vollständig unbefriedigende Arbeit, soweit sie einen
respektabelen Luxuskonsum gestattet etc.
ZUSAMMENFASSEND erscheinen die drei
Merkmale der bürgerlichen Familie, sexuelle Unterdrückung, autoritäre
Struktur und Leistungsdruck zugleich bei der Verursachung individueller
psychischer Leiden und politischer Restauration eine kardinale Rolle zu
spielen. Für die Sozialpsychiatrie wird dieser Zusammenhang offenkundig
werden, wenn sie beim Versuch einer Änderung der Familienstruktur mit
den Interessen der herrschenden Gruppen zusammenstößt.
Literaturverzeichnis
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überarbeitet 1/2017
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