Goal Attainment Scaling
Goal Attainment Scaling
56 psychiatric patients in day-hospitals and 12 outpatients in psychotherapy have been evaluated by goal-attainment-scaling:
That method itself has been questioned and scrutinized.
 
  

Einige Ergebnisse der Sozialpsychiatrie- Diskussionsstand einer studentischen Arbeitsgruppe, Zürich 1969, unveröffentlichtes Manuskript
Wolfgang Bolm

letzte Korrektur: 22.10.2018


 

1. Epiodemiologie

Eines der am besten gesicherten Ergebnisse der Epidemiologie psychiatrischer Erkrankungen ist das gehäufte Auftreten von Schizophrenie, Psychopathie (1) , Alkoholismus, organischen Psychosen und Delinquenz (1a) in der unteren Unterklasse (2), gemessen an Einkommen, Beruf, formaler Bildung sowie u.U. Wohnsitz und ethnischer Zugehörigkeit. Neurosen und Affektpsychosen sind mit ziemlicher Sicherheit nicht klassenabhängig verteilt, über die psychosomatischen Krankheiten wissen wir diesbezüglich noch zu wenig.

Die Inzidenzrate gibt die in einem Zeitabschnitt neu aufgetretenen Fälle pro Bevölkerungszahl an, die Prävalenzrate das zahlenmäßige Verhältnis aller Patienten, die an einer Krankheit leiden, zur Bevölkerung. Letztere umfasst also auch Rückfälle und chronische Verläufe.

In der Unterklasse ist die Inzidenzrate für Schizophrenie mehr als doppelt so hoch wie die entsprechende Ziffer für die Oberklasse (2), die Prävalenzziffern der beiden Klassen verhalten sich sogar wie 8:1 . Die Schizophrenie entwickelt sich also am Boden der Gesellschaft nicht nur häufiger, ihr Verlauf ist hier auch um ein Vielfaches stärker durch Chronizität und Rückfälle gekennzeichnet.

Je größer die individuelle Belastung durch widrige Lebenserfahrungen ( Zerbrechen der Familie, Armut, Krankheit, Arbeitslosigkeit usw.), desto wahrscheinlicher ist der Ausbruch einer psychiatrischen Krankheit. Die Bevölkerung der Unterklasse reagiert unter Stress bevorzugt mit einer Psychose, die der Oberklasse eher mit einer Neurose. Bei gleichem Stress ist der sozial Tieferstehende weniger widerstandsfähig und erkrankt mit der bösartigeren Krankheitsform. (3)

Die Abhängigkeit der psychischen Gesundheit von wirtschaftlichen Gegebenheiten kann man an den folgenden Ergebnissen ablesen:

- Wenn die Beschäftigungsziffer sinkt, steigt statistisch signifikant die Erstaufnahmeziffer der Hospitäler für Psychosen (4).

- Die Schizophrenierate ist in manchen Berufen, die im Rückgang begriffen sind, höher als in anderen Berufen mit Expansionstendenz (5).

- Innerhalb der USA hat man in Regionen mit stagnierender Wirtschaft die ausgeprägteste Häufung psychiatrischer Leiden festgestellt (6).

- Die Slumbezirke der Großstädte zeigen im Vergleich mit den besser gestellten Randbezirken eine bis zu 20 mal höhere Psychoserate. Das kann nur zum kleineren Teil durch sozialen Abstieg oder geographische Mobilität erklärt werden. (2, 7 )

 

2. Pathogenese

Die Familie hat eine Schlüsselstellung in der Entwicklung erlebnisbedingter Krankheiten. Es kann hier nicht die normale Entwicklung des Kindes, sondern nur eine Anzahl der sie störenden sozialen Faktoren besprochen werden. Die Unterklasse steht unter scharfem wirtschaftlichen Druck: Sehr geringes Einkommen bei grossen Familien, Arbeitslosigkeit oder sehr unbefriedigende Arbeit, beengte Wohnverhältnisse, Das Erlebnis von Not, Sorge oder Resignation der Eltern belastet die Kinder. Sie erfahren früh, wie gering der soziale Rang ihrer Eltern geschätzt wird. Beides zusammen erschwert die Bildung eines Ich-Idealas, das den Weg aus dem Elend weisen könnte. In den engen Wohnungen müssen sich die Kinder unter dem Druck der Eltern und Nachbarn wie kleine Erwachsene aufführen. Es fehlt der großen Geschwistergruppe aus Mangel an Zeit und Befähigung der Eltern eine intensive und individuelle Zuwendung, wie sie zur vollen Entfaltung der Sprache, zur Ich-Integration der Triebe und zur Entwicklung der Introspektionsfähigkeit erforderlich ist (3, 8).

Die Eltern spielen eine autoritäre Rolle, indem sie durch massive Strafe äußerliche, nichteinsichtige Unterwerfung unter konventionelle Regeln erzwingen - so, wie sie es an sich selbst am Arbeitsplatz erfahren (9).

Das Erlebnis dauernder Knappheit, die Aussichtslosigkeit der Hoffnung auf sozialen Aufstieg und das negative Vorbild der Eltern führen zur Ausbildung einer geringen Frustrationstoleranz. Die ökonomische Unterprivilegierung trägt also auf verschiedene Weisen zur Entwicklung ich- schwacher Individuen bei, wodurch zugleich die Widerstandsfähigkeit gegenüber psychischem Stress abnimmt, das Morbiditätsrisiko also steigt.

 

Die zweite Gruppe der pathogenen sozialen Faktoren ist in ideologischen Werthaltungen zu suchen. Die herrschende Leistungsideologie bewirkt, dass man vor sich selbst und anderen Ansehen in dem Maße genießt, wie man verdient und konsumiert.

Besonders die Mittel- und Oberschicht wird in der Kindheit durch Androhung von Liebesverlust zu Triebverzicht und Leistung gezwungen. Als Erwachsene können sie sich von dieser Leistungsorientierung nicht lösen, obgleich die sozialen Gratifikationen nicht im Entferntesten für den Triebverzicht und die Einengung des Erlebnishorizonts entschädigen können. Die resultierende Enttäuschung und Aggression wird in verbissener Mehrleistung, in neurotischem Verhalten oder psychosomatischen Erkrankungen verarbeitet. Diese ständige Aggression kann auch manipulativ in Vorurteile gegen Minderheiten und militaristische Einstellungen umgewandelt werden, was periodisch zu Pogromen oder Krieg führt.

Der Unterklasse werden durch Schule und Massenkommunikationsmittel einige der Mittelklassenormen eingeprägt. Wie oben gezeigt, fehlt ihnen aber sowohl der psychische Apparat, um ein den Mittelklassenormen entsprechendes Verhalten zu steuern, als auch das Geld, um einen solchen Lebensstil zu imitieren. Diese Diskrepanz zwischen Zielen und verfügbaren Mitteln ist der zweite Faktor der in der Unterklasse gehäuft auftretenden psychiatrischen Leiden (10). So fand man bei schizophrenen Patienten der Unterklasse signifikant häufiger vor Ausbruch der Krankheit schwere seelische Belastungen, die eindeutig mit ihrer wirtschaftlichen Lage (12) zusammenhingen und eine Kindheit und Jugend, die durch ein übermäßiges Insistieren der Eltern auf sozialem Aufstieg, Leistung und Perfektion gekennzeichnet waren (11). Es ist hier zu betonen, dass eine starke Leistungsmotivation und starker Leistungsdruck (im Vergleich zu den nicht-schizophrenen Geschwistern, Neurotikern und Gesunden) auch den schizophrenen Patienten der Mittelklasse eigen ist, dass aber in der Unterklasse diese pathogenen Merkmale durch Ich-Schwäche und Unterprivilegierung in eine viel aussichtslosere Lage führen.

 

3. Therapie

Warum verläuft die Schizophrenie in der untersten sozialen Klasse so viel schwerer ? Es ist zunächst wahrscheinlich, dass vermehrtes Morbiditätsrisiko und schlechterer Verlauf Hand in Hand Folgen der Ich-Schwäche sind. Weiterhin erhalten die Mitglieder der Unterklasse eine erschreckend viel schlechtere Therapie: In New Haven erhalten 52 % der Schizophrenen aus der Oberklasse, aber nur 10 % in der Unterklasse eine Psychotherapie. 90% der Oberklasse-Patienten sind in Privatspitälern, verglichen mit 11 % bei den Unterklassepatienten. 10 % der Oberklasse-Patienten erhalten keine Behandlung, dagegen 52% der Unterklasse-Patienten. (2) Diese Unterklasse-Patienten werden von den weniger gut ausgebildeten Therapeuten betreut (13, 14), die Therapie dauert im Vergleich zu den Oberklasse-Patienten auch signifikant kürzer an (14).

Eine große Rolle spielt das Gesundheitsverhalten der Bevölkerung auch für die Früherkennung und Rehabilitation der psychiatrischen Patienten. Hier sind Patienten aus der Unterklasse ganz massiv benachteiligt: Die Fähigkeit zur adäquaten Beurteilung psychischen Krankseins ist fast ausschließlich auf die gebildete Oberschicht beschränkt (15), entsprechend kommen auch 78 % der Patienten aus dieser Schicht von sich aus oder auf Ratschlag der Familie zur Behandlung, während 71 % der Psychotiker aus der Unterschicht erheblich später im Verlauf ihrer Krankheit über staatliche Stellen zwangsmäßig eingewiesen werden (2).

Die Rehabilitation von Oberklasse-Patienten ist viel leichter, da ihre Angehörigen finanzkräftig sind und mehr Einfühlung in die Situation des Kranken haben. In der Unterklasse bedeutet der Patient finanziell und räumlich eine Last; die Ablehnung der Angehörigen gegen eine Zusammenarbeit mit der Klinik wächst auch durch die ablehnende Behandlung, die sie selbst dort erfahren, gemäß der sozialen Einschätzung durch Ärzte und Pflegepersonal (16). Am schwerwiegendsten ist sicher die große Vorurteilsbereitschaft der Unterklasse, die auf das Ungewohnte des psychisch Anders-Seins mit feindlicher Zurückweisung reagiert (15). Diese Vorurteilsbereitschaft erwächst aus der Unfähigkeit, sozial nicht akzeptabele Strebungen der eigenen Psyche wahrzunehmen, sodass diese auf andere projiziert und dort bekämpft werden müssen. Die Neigung zum Vorurteil hängt mit der Ich-Schwäche zusammen und bedingt eine nicht zu unterschätzende Manipulierbarkeit der Unterklasse.

 

4. Die Rolle der Familie

Die Familie wird allgemein als Keimzelle des Staates angesehen, als unabdingbare Mittlerin im Sozialisationsprozess, dem Wachstum des Kindes im "sozialen Uterus". Die Verherrlichung der bestehenden Familienstruktur wird durch die Ergebnisse der Sozialpsychiatrie und der psychoanalytisch orientierten Faschismusforschung Wilhelm Reichs (17) ernstlich in Frage gestellt:

In einer Unzahl unserer Familien wird den Kindern eine krankhafte Triebverdrängung aufgezwungen, deutlichstes Beispiel ist die Verfolgung der kindlichen prägenitalen Sexualität und die Unterdrückung der genitalen Sexualität bis weit in die Nachpubertät hinein. Auf diese Weise werden die Kinder zu neurotischen und psychosomatischen Leiden prädestiniert, gleichzeitig bieten die verdrängten Impulse einen Ansatz zur Manipulation der Massen. Am eindrücklichsten wird das sichtbar an der Ideologie des deutschen Faschismus; die Agitation für die Reinerhaltung der Rasse, für den Schutz der nordischen Frau vor Blutschande appeliert an die Inzestangst. Diese wissenschaftlich widersinnigen Formeln verwandelten sich in eine historische Macht, indem sie gegen die in der bürgerlichen Familie entstandenen Ängste einen Schutz gewährten und so die Masse an sich fesselten.

Wenn die politische Machtstellung einer Gruppe sachlich nicht mehr zu rechtfertigen ist, bindet sie das Volk durch massenhafte Mobilisierung von Vorurteilen und autoritären Haltungen an sich. Die Grundlage für die Verfügbarkeit dieser Mechanismen liegt ebenfalls in den Familien, die die Ichstärke der Kinder nur mangelhaft entwickeln und sie dazu führen, in schwierigen Situationen den einzigen Ausweg in der bedingungslosen Unterwerfung unter einen mächtigen Führer, eine gesellschaftliche Vater-Figur zu suchen. Das Kind konnte nie seine eigenen Bedürfnisse gegen den Willen der Eltern befriedigen, musste Lust aus der Unterwerfung gewinnen. Wenn dann im Erwachsenenalter die Herrschaftsverhältnisse am Arbeitsplatz oder wo auch immer die Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse versagen, wiederholt sich die kindliche Identifikation mit dem Aggressor, die resultierende Unlust macht sich in Vorurteilen oder Pogromen gegen schwache Minderheiten wie Neger, Juden oder Studenten Luft und die todkranke alte Herrschaft hat einmal mehr eine Verschnaufpause gewonnen. Die zum guten Teil familiär bedingte Ich-Schwäche ist zugleich Ursache der individuellen und der gesellschaftlichen Krankheit.

Gehen wir davon aus, dass in der frühen Kindheit erlernt Einstellungen und Verhaltensweisen das Leben des Erwachsenen weitgehend prägen. Das Kind erhält von seinen Eltern Belohnungen nur, wenn es sich ihren Vorstellungen von kindlichem Wohlverhalten unterordnet. Die Absicht, elterliches, später soziales Ansehen zu erwerben ist eine sekundäre Motivation. In der Ohnmacht des Kleinkindes lernt man den Verzicht auf primäre Wünsche, zugunsten dieses sekundären Motivs. Vor dem Hintergrund pathologisch starker Ausprägung dieser Bereitschaft zur Ersatzbefriedigung werden weitverbreitete und erschreckende Entfremdungsphänomene des Erwachsenenlebens als Korrelate der Leistungsideologie verständlich: Die Bereitschaft, für die Karriere jahrzehntelang auf persönliche Beziehungen zu verzichten, die Unterwerfung unter vollständig unbefriedigende Arbeit, soweit sie einen respektabelen Luxuskonsum gestattet etc.

ZUSAMMENFASSEND erscheinen die drei Merkmale der bürgerlichen Familie, sexuelle Unterdrückung, autoritäre Struktur und Leistungsdruck zugleich bei der Verursachung individueller psychischer Leiden und politischer Restauration eine kardinale Rolle zu spielen. Für die Sozialpsychiatrie wird dieser Zusammenhang offenkundig werden, wenn sie beim Versuch einer Änderung der Familienstruktur mit den Interessen der herrschenden Gruppen zusammenstößt.

 

Literaturverzeichnis

1. B S Dohrenwend, B P Dohrenwend: Field studies of social factors in relation to three types of psychological disorders. J abnorm pychol 72 (1967) 369-78

1a. R Lapouse, M A Monk: Behaviour deviation in a representative sample of children . Am J Orthopsychiat 34 (1964) 436-46

2. A B Hollingshead, F C Redlich: Social class and mental illness. New York 1958

3.T S Langner, S T Michael: Life stress and mental health. Glencoe 1963

4. Brenner et al : Economic conditions and mental hospitalization for functional psychosis. J nerv ment dis 14 (1968) 371-84

5.. Odegaard zit. nach: M L Kohn: Social class and schizophrenia. In: The transmission of Schizophrenia. D Rosenthal, S S Kety (Eds) London 1968

6. Leighton et al zit. nach: H Berndt: Soziogenese psychiatrischer Erkrankungen. Soziale Welt 19 (1969) 22-46

7. H Häfner: Modellvorstellungen in der Sozialpsychiatrie. Z psychother med Psychol 19 (1969) 85-114

8. J Bosshard, E Boll: The Sociology of Child Development. New York 1966

9. M L Kohn: Social Class and Parent Child Relationships. Am J Sociol 68 (1963) 471-80

10. R J Kleiner, S Parker: Goal striving, social Status and mental Disorder In: The Sociology of mental Disorders. K S Weinberg (Ed.) London 1967

11. Yi-Chuang Lu: Contradictory parental Expectations in Schizophrenia. In: The Sociology of mental Disorders, K S Weinberg (Ed.), London 1967

12. L H Rogler, A B Hollingshead: Trapped. Families and Schizophrenia. New York 1965

13. R C Hunt et al: Social status and psychiatric Services in a Child Guidance Clinic. Am sociol rev 23 (1958) 81-83

14. J K Myers, LSchaffer: Social Stratification and psychiatric Practice. Am Sociol rev 19 (1954) 307-10

15. B P Dohrenwend, E Ching-Song: Social Status and Attitude toward psychological Disorder. Am Soc Rev 32 (1967) 417-33

16. J K Myers, B H Roberts: Family and Class Dynamics in mental Illness. New York 1959

17. W Reich: Massenpsychologie des Faschismus, Raubdruck, München 1969 (1933)

 

 

 

 

 

 

 

 

überarbeitet 1/2017

 

 

 

 

 
074216
Webdesign made by Jan Bolm ©